Rituale und Strukturen

Henrike Hopp

Strukturen, Grenzen, Rituale
Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien brauchen Sicherheit, Klarheit, Verlässlichkeit, Deutlichkeit, Kompetenz, Geborgenheit und Halt

Je chaotischer die innere Welt des Kindes ist, umso mehr braucht es einen geordneten, klaren und stabilen Rahmen. Dieser Rahmen soll ihm möglichst umfassende Sicherheit vermitteln durch sicherheitsgebende Strukturen, durch sicherheitsgebende klare Grenzen und sicherheitsgebende Rituale.

Die Kinder brauchen einen absolut nachvollziehbaren Alltag in dem die Eltern dem Kind gegenüber vorhersehbar, konsequent und wiederholend sind.

Strukturen
Kinder ohne sichere Bindung reagieren empfindlich auf Änderungen im Tagesablauf, auf Übergänge, auf Überraschungen, chaotische soziale und allgemein neue Situationen. Sie verfügen über kein sicheres Arbeitsmodell im Umgang mit anderen und sind daher auf äußere Stützen maßgeblich angewiesen.

Denkstrukturen und „Sortieren“ des Kindes in der Pflegefamilie:

  • wer hat was zu sagen (Elternrolle) –
  • wer hat die Macht –
  • was ist die Rolle des Jugendamtes, des Vormundes etc. –
  • Pflegekind sein – in Pflegefamilie leben und leibliche Eltern haben
  • Leben mit altem Denken in neuen Situationen
  • Kontrolle über mich nicht verlieren
  • etc.

Denkstrukturen der Eltern als Pflegeeltern:

  • welches ist unsere Aufgabe
  • was können wir für dieses Kind leisten und tun
  • was sind wir für dieses Kind (Bindung – Beziehung – Liebe?)
  • was sind die Hauptpunkte, die wir zu beachten haben:
  • wo steht das Kind in seiner Entwicklung
  • kann es das leisten was wir für es wollen
  • wem gegenüber sind wir verantwortlich
  • wo stehen wir, und was dürfen wir im Gesamtgefüge

Eltern und Kinder denken in unterschiedlichen Denkstrukturen. Die Art und Weise, Dinge zu erleben, darüber zu denken, Erlebtes einzusortieren in wichtig und unwichtig entwickelt sich aus den bisherigen Lebenserfahrungen. Aufgrund dieser Lebenserfahrungen entwickelt der Mensch ein Arbeitsmodell im Umgang mit anderen und eine Sicht der Welt. Traumatisierte Kinder haben eine spezielle Sicht auf die Welt, durch die sie die Welt als bedrohlich und außer Kontrolle geraten ansehen. Das bisher Erlebte prägt die Art und Weise der Hirnreifung.

Die Strukturierung des Tages, der Woche, des Jahres regelt die Zeit und die Erwartungen. Struktur bringt Verlässlichkeit und Ordnung und klärt Forderungen und Abläufe. Äußere Strukturen helfen dem geschädigten Kind sein inneres Chaos bewältigt zu bekommen.

Strukturen im Alltag:

  • Aufstehen, Frühstücken, Kindergarten oder Schule, Schulwege, in der Schule, Mittagessen, Schulaufgaben, Freizeit, Abendessen, Schlafen gehen,

Strukturen im Ablauf des Jahres:

  • Ferien, Verreisen (große Verunsicherung für die Kinder)
  • Krankheit
  • Feiertage
  • Familienfeste
  • Besuche
  • Besuche der Sozialarbeiterin/Vormund
  • Evtl. Besuchskontakte

Veränderungen der üblichen Strukturen durch veränderte Situationen z.B. Wochenende, Ferien, Feiertage, Krankheit kann ein traumatisiertes Kind in Verwirrung bringen. Es fällt ihm schwer sich von der üblichen Schulzeit auf die Ferien einzulassen und ebenso umgekehrt. Es hat Probleme, sich im Urlaub zu entspannen und diesen zu genießen. Ein Umzug bringt dieses Kind in eine tiefe Krise, der Verlust einer gewohnten Lehrerin oder eines Nachbarn verunsichert es.

Regeln und Grenzen (und was passiert, wenn sie überschritten werden – Konsequenzen)

Absolut notwendig sind klare Bedingungen und Grenzen, die durch Strukturen festgesetzt werden.

Das Pflegekind braucht klare, deutliche Ansagen zu dem was gemacht werden darf und was nicht:

  • du gehst nicht mit Fremden mit, steigst nicht in das Auto
  • du kommst zum Essen nur zu uns
  • du setzt dich nicht bei anderen auf den Schoß
  • du küsst und umarmst nur uns
  • Fernsehen schaust du nur von 18 bis 19 Uhr

Übertretene Grenzen müssen logisch geahndet werden, d.h. für das Kind im Zusammenhang stehen mit den Grenzen, die es verletzt hat.

In ihrer Tätigkeit und ihrem Engagement für das Kind müssen auch Pflege- und Adoptiveltern über ihre Grenzen nachdenken und diese für sich ziehen. Für was bin ICH (sind WIR) verantwortlich, was kann ICH (können WIR) noch leisten?

Rituale
Rituale bringen durch ihre Festlegung und Wiederholung einen vertrauen erweckenden, beruhigenden Hintergrund ins Lebens. Das immer wiederkehrende ordnende Prinzip ist es, was ein Ritual ausmacht. Gerade in Zeiten sozialer Verunsicherung gibt es ein erhöhtes Bedürfnis nach Ritualen. Sie geben Halt und Stabilität und schaffen in der Familie Gemeinsamkeiten. Sie erzeugen ein starkes Wir-Gefühl und die Kinder können sich auf etwas freuen, was sie auffängt, auch wenn der Tag nicht so schön war.

Wichtige Rituale:
Rituale lassen sich über den Tag verteilen:

  • Das Aufstehen morgens,
  • Das gemeinsame Mittagessen – oder
  • Das gemeinsame Abendessen wo alle über den Tag berichten

Und natürlich ganz wichtig: Das Abendritual – Bettgespräche
Vorlesen, Erzählen, Versuch den Tag noch einmal zu betrachten z.B. in Form von Erzählen, was am Tag passiert ist. Dies lässt sich wundervoll im Rahmen einer Tierfamilien-Erzählung machen, in dem die Tiere das erleben, was die Pflegefamilie heute erlebt hat. Wenn das Pflegekind an diesem Tag in einer Weise reagiert hat, welches für die Eltern etwas unverständlich war, dann kann dieses in der Geschichte wiedererzählt werden mit einer entsprechenden Interpretation, warum dieses Tierkind nun so reagiert haben mag. Oft passiert es dann, dass das Pflegekind hier zustimmend nickt oder eine verbessernde Erklärung abgibt – und schon verstehen die Pflegeeltern mehr).

Wichtige Rituale können sich auch aus der Bedürftigkeit des Kindes entwickeln:

  • das Kind mit Essensproblemen fühlt sich verstanden, wenn die Eltern mit ihm einen Teller Knäckebrot und etwas zu trinken auf einen Tisch neben seinem Bett stellen und es dadurch nicht mehr Angst haben muss, Hunger zu erleiden
  • das Kind mit großem Schutzbedürfnis fühlt sich verstanden, wenn die Eltern mit ihm vor dem Schlafengehen nachsehen, ob alle Türen und Fenster verschlossen sind
  • das Kind mit großen Ängsten fühlt sich verstanden, wenn es im Bett seiner Pflegeeltern einschlafen darf
  • das Kind mit großen Ängsten fühlt sich verstanden, wenn es mit seinen Eltern speziell darauf achtet, dass abends immer das Licht im Flur an bleibt
  • etc.

Ein Leben mit Strukturen, Grenzen und Ritualen ist für die meisten Pflege- und Adoptivkinder unabdingbar notwendig. Da die Kinder meist nicht durch Einsicht lernen können, ist es wichtig, dass sie durch die ständigen Wiederholungen in ihrem Alltag durch Gewöhnung lernen.

Erstveröffentlichung: moses-online.de