Erfahrungsbericht: von Liane – Als du kamst

Erfahrungsbericht einer Pflegemutter – mit fachlichem Kommentar von Henrike Hopp

Themen:

Mein Mann war wie immer auf „Achse“, oder besser gesagt er ist Fernfahrer, und ich saß am Tisch und überlegte, wie ich meinem Leben wieder einen Inhalt geben konnte. Was alle Frauen in solchen Situationen machen, sie gehen einkaufen.

In unserem kleinen Ort gibt es nur einen Edeka und ich nix wie hin und jemanden zum Erzählen suchen. An der Fleischtheke hat sich mein Leben verändert. Eine gestandene Pflegemutter fragte mich, ob ich mir nicht vorstellen könnte ein Pflegekind aufzunehmen. Der Gedanke gefiel mir sehr gut und ich willigte ein. Eine Bedenkzeit wollte ich nicht, denn wenn man alle „Für“ und „Wider“ gegeneinander aufwiegt, was wird gewinnen?

Ein paar Tage später schnappte ich meinen Mann und wir nahmen den Termin mit der PKD-Mitarbeiterin unseres zuständigen Jugendamtes für das erste Gespräch wahr. Dieses Gespräch motivierte uns noch mehr, den Schritt in die Pflegschaft zu wagen. Wir füllten den Antrag aus und kurze Zeit später erfolgte schon die Anbahnung mit unserem neuen Familienmitglied. Wir waren uns sofort sympathisch, wie man so schön sagt, die Chemie stimmte und Fritzchen zog kurze Zeit später bei uns ein.

Fritzchen ist ein kleiner Wirbelwind von 4 Jahren und wir schon im gesetzteren Alter. Auf was haben wir uns da bloß eingelassen? Aber das Jugendamt wusste wohl schon was es tat. Immer nur Laufschritt, normal langsam gehen, ging nicht. Die ersten Mahlzeiten waren für uns nicht nachvollziehbar. Er lief um den Esstisch, zwischendurch kurze Pause. Wir schoben die Happen in den Mund und weiter ging es rund um den Esstisch. Erst nach einigen Tagen konnte er sich hinsetzen und so lange sitzen bleiben, bis die Mahlzeit eingenommen war. Der letzte Bissen war noch nicht runtergeschluckt, dann war er auch schon wieder auf und davon.

Heute, nach 4 Jahren und mit gewissem Abstand, kann ich sagen, wir profitierten beide von seiner Rastlosigkeit. Unser kleiner Wirbelwind wurde durch uns ruhiger und wir müssen uns mehr bewegen, um hinterher zu kommen.

Im Zusammenleben mussten aber auch wir einiges neu lernen und dabei erfahren, dass sich Pflegekinder in der Entwicklung stark von den eigenen unterscheiden. Ein „Lass das sein.“ zeigte keine Wirkung. Meine leiblichen Kinder brauchte ich in diesem Alter nur ansehen und sie wussten, Mama meint das ernst, aber er – Fehlanzeige. Oh wir würden viel Geduld brauchen. Wenn man seine Stimme erhebt um dem Inhalt des Gesagten Nachdruck zu verleihen, guckt er immer ganz traurig und zieht sich in sein Zimmer zurück, da er weiß, dass er zu weit gegangen ist. Kurze Zeit später kommt er dann mit hängenden Ohren und einem ganz schmerzlichen Gesicht wieder zurück, drückt uns und sagt immer, dass er uns liebhat. Nach unserer Bekundung, dass auch wir in ganz doll liebhaben, hellt sich das Gesicht auf, er strahlt wieder und alles ist wieder gut.

Bis heute stellen wir immer neue Dinge fest, die wir uns nicht erklären können:

Fritzchen war noch nicht lange bei uns und bekam Fieber, über 40°C. Wir wollten ihm die Temperatur messen, wie es bei Kindern üblich ist, im Po. Trotz des geschwächten Körpers und obwohl wir ihn festhielten, war es uns nicht möglich, die Temperatur auf diese Weise zu ermitteln. Sein ganzer Körper versteifte sich, er kniff die Pobacken zusammen und er schrie und weinte fürchterlich. Mir stiegen in dem Moment auch gleich die Tränen in die Augen. Wir konnten uns nicht erklären, was mit dem Jungen passierte, wir wollten ihm doch helfen. Wir haben dann vom Temperatur ermitteln abgelassen und uns am nächsten Tag ein Thermometer für die Messung im Ohr und an der Stirn gekauft. Seitdem ist Fiebermessen kein Problem mehr. Wenn er Fieber bekommt, lassen wir ihm Fiebersaft verschreiben, denn auch Zäpfchen können wir ihm nicht geben.

Fritzchen hat, wie jedes Pflegekind, sein eigenes Zimmer. Dort befindet sich sein Spielzeug und auch sein unbedingt notwendiger Fernseher. Ohne diese flackernden Bilder kann er nicht spielen. Sie beruhigen ihn und er kann sich besser konzentrierten. Der Ton ist egal. Wir haben es auch mit dem Radio versucht, aber das ist nicht das Gleiche. Es ist wie eine Sucht, der Fernseher muss laufen. Vom damaligen Vormund haben wir erfahren, dass er bei seinen Herkunftseltern nicht in seinem Bettchen schlafen konnte. Dies war mit Bekleidung vollgestopft und der Hund schlief darin, so dass er nur als logische Schlussfolgerung vor dem Fernseher auf der Couch schlafen konnte.

Sein Verhalten zeigte verschiedene Merkmale auf. Er brüllte unverständliche Laute, wollte immer Mumie spielen. Was für mich nicht zu einem Vierjährigen passte. Einmal brüllte er mich wieder an und ich stellte mich vor ihn hin und brüllte zurück. Der Junge sah mich ganz verdattert an und ich fragte, ob er das schön findet. Als er verneinte, fragte ich weiter, warum er das dann macht. Darauf bekam ich keine Antwort, wurde aber seitdem nicht mehr angebrüllt. Diese Begebenheit habe ich einer Psychologin beschrieben, worauf sie mir sagte, dass ich richtig gehandelt habe, indem ich ihn gespiegelt habe, wodurch er sein Handeln überdacht hat. Er hat das Brüllen gelassen.

Wir halten uns jetzt oft in einem Raum ohne Fernseher auf und er kommt zu uns, weil die Neugier siegt. Der Bitte den Fernseher in seinem Zimmer auszuschalten, kommt er in diesen Situationen jetzt ganz selbstverständlich nach. Da wird dann auch der Fernseher ausgeschaltet, wenn ich ihn zum Essen rufe. Während der Mahlzeiten unterhalten wir uns lieber. Er erzählt uns gerne und ausführlich wie sein Tag war. Wir fragen, er antwortet. Alles wird besprochen, auch das Fernsehprogramm von eben. Aber dieses selbstverständliche Ausschalten des Fernsehgerätes war ein langer, komplizierter und sich immer wiederholender Prozess.

Als Fritzchen ca. ein Jahr bei uns war, empfahl uns die Logopädin, da er bis zum dritten Lebensjahr nur seine eigene Sprache kannte und dann durch regelmäßige Besuche bei der Logopädie auch unsere Sprache lernte, eine Sprachtherapie in einer Reha-Einrichtung zu machen. Als er mit mir dann für fünf Wochen diese Reha-Maßnahme durchführte, war das für die Bindung zwischen ihm und mir ein enorm großer Schritt. Wir unternahmen alles gemeinsam, nur wir beide. Gezeigt hat sich das im Selbstvertrauen. Er freut sich seine leiblichen Eltern bei den Kontakten zu sehen, ist immer gespannt, was sie ihm mitbringen. Aber am Ende sagt er „Tschüss“, dreht sich um zu mir und fragt was wir jetzt machen, wenn wir wieder zu Hause sind, winkt noch mal und setzt sich ins Auto. Diese Selbstverständlichkeit war nicht immer so. Wenn ich ihm vormittags erzählte, dass wir nachmittags seine Eltern sehen würden, ging er zögerlich in den Kindergarten. Er brummte immer vor sich hin: „Ich habe ein Bett, ich habe einen Schrank, ich habe ein Regal. Ich habe ein Bett, ich habe einen Schrank, ich habe ein Regal. …..“ Er beschrieb sein Zimmer. Zu Anfang konnte ich mir das nicht erklären, höchstens, dass er Angst hatte, nicht wieder zurückzukommen. Danach habe ich ihn erst von den bevorstehenden Kontakten erzählt, wenn wir im Auto Richtung Jugendamt/Besuchsraum waren. Dann war auch sein Tag nicht so stressig. Er war ruhiger.

Nach der Sprach-Reha und unserer gemeinsamen Zeit geht er jetzt locker mit der Situation um. Alle 4 bis 5 Wochen hat Fritzchen mit seiner leiblichen Mutter Besuchskontakt. Anfänglich fanden diese Elternkontakte im Jugendamt im Beisein der PKD-Mitarbeiter und jetzt in den Räumen unseres Pflegeelternvereins statt. Hier gibt es einen Raum mit diversem Spielzeug, in das er sich gern mit seiner „anderen Mama“ zurückzieht und ausgiebig spielt. Da kommt er nur in regelmäßigen Abständen um die Ecke, lächelt freudig und sieht, dass ich mit meinem Buch im anderen Raum sitze. Nach diesen Besuchen setzen wir uns ins Auto und fahren zufrieden nach Hause. Diese Besuche genießt auch die leibliche Mutter. Es ist eine entspannte Atmosphäre. Wir besprechen organisatorische Dinge. Fritzchen berichtet über den Verlauf der letzten Wochen. Durch die Corona-Pandemie mussten die Besuchskontakte ausfallen, da die Mutter zur Risikogruppe gehört. Wir haben uns daraufhin geeinigt, dass sie zwischen den Besuchskontakten bei uns anrufen und mit ihm sprechen kann. Fritzchen nimmt dabei den Hörer und geht in sein Zimmer mit stolzer Brust. Er darf alleine telefonieren und erzählt alles, was er sieht und macht. Da fühlt unser kleiner Fritzchen sich richtig groß und erklärt seine Welt. Die leibliche Mutter freut sich und ist zufrieden. Sie hat sich bei uns bedankt, dass es Fritzchen so gut bei uns hat.

Seine Anwesenheitskontrolle wie bei den Kontakten der Blick um die Ecke, ob ich noch sitze und lese, stellen wir auch bei vielen anderen Situationen fest.

Wenn wir, während seiner Spielphasen im Kinderzimmer, uns ins Wohnzimmer befinden und unser eigenes Programm schauen oder auf dem Hof mit dem Hund spielen, kommt er in unregelmäßigen Abständen und überprüft, ob wir noch da sind. Meistens kommt er dann vorsichtig angelaufen, guckt ins Zimmer oder auf den Hof, stürmt auf uns zu und drückt uns. Er kommt für ein paar Minuten kuscheln. Wir nehmen uns die Zeit, reden kurz über das Spielzeug, das er mitgebracht hat oder den Film, den er gesehen hat und dann geht er zufrieden wieder in sein Zimmer und er kann ruhig weiterspielen. Wenn es wieder lauter im Zimmer wird und er fängt an zu toben, dauert es meist nicht lange und die nächste Stippvisite steht an.

Fritzchen hat jetzt die erste Klasse in der Grundschule hinter sich. Sein erstes Endjahreszeugnis hat er bekommen und ist trotz Corona ein guter Schüler und hat den Lernstoff vollständig geschafft. Eine Untersuchung vor der Einschulung im SPZ hatte hier ganz andere Ergebnisse vorhergesagt. Er würde die ersten zwei Jahre der Grundschule in der berechtigten Zeit von drei Jahren schaffen und anschließend in eine Förderschule umgeschult werden müssen. Fritzchen aber, dieser kleine Pfiffikus, hat allen bewiesen, dass auch psychologische Untersuchungen nicht immer stimmen müssen. Er benötigt keinen Förderunterricht, kommt gut mit dem Lehrstoff mit. Manchmal ist er bloß ein wenig übereifrig und hat in jedem Test einen Fehler. Wir sind aber sehr stolz auf „unseren“ kleinen Jungen. Etwas schmunzeln mussten wir über das Zeugnis schon. Es gibt ja noch keine Zensuren, sondern nur Beurteilungen. Dank seiner Sprachtherapie kann Fritzchen sehr deutlich sprechen. Für den Deutschunterricht steht deshalb in der Beurteilung als erster Satz des Zeugnisses; „Er kann sehr gut kleine Geschichten erzählen.“ Und der letzte Satz des Zeugnisses: „Fritzchen muss seinen Redefluss noch zügeln lernen.“

Die Welt ist ein Dorf.

Fritzchen besucht den Hort nach der Schule, damit wir Pflegeeltern arbeiten gehen können. Jeden Tag fährt er mit dem Bus zur Schule und kommt mit dem Bus wieder zurück. Damit ich nicht morgens zu spät zur Arbeit komme, da ich am Bus mit ihm auf die Abfahrt warten muss, geht er mit den anderen Hortkindern zur Bushaltestelle. Er braucht nicht den Früh-Hort zu besuchen, da die Kinder direkt vor unserer Haustür entlangkommen und er sich ihnen anschließt. Meistens stehen wir schon vor der Tür und warten auf die kleine Gruppe. Er geht mit seinem rituellen: „Links – rechts – links – es kommt kein Auto“ über die Straße, begrüßt alle und fängt sofort voller Stolz an zu erzählen, was in den letzten Stunden passiert ist. Mathilde, die Begleitung der Kinder, kann bestimmt viele Geschichten erzählen, die sie erfahren hat und trotzdem hört sie noch aufmerksam zu. Fritzchen freut sich, dass er alle Neuigkeiten los geworden ist und schon geht der kleine Trupp weiter zur Bushaltestelle. Es passiert aber auch mal, dass die Kinder schon vor der Tür stehen, bevor Fritzchen aus dem Haus tritt. Dann rufen alle: „Fritzchen!“ Aber das Ritual der Straßenüberquerung und das Erzählen des Erlebten wird trotzdem durchgezogen. Unsere Nachbarin fragt dann nachmittags mit einem Lächeln „Na seid ihr wieder zu spät gekommen? Ich habe die Kinder rufen hören.“ Dann verspricht Fritzchen mit einem Lachen, dass wir morgen wieder früher draußen stehen.

Kommentar

Als ich diesen Bericht gelesen habe, war ich gerade in einem Seminar mit der Pflegemutter. Wir sprachen eine Weile über das, was sie erlebt hatte und es entwickelte sich ein Austausch von Gedanken und daraus wiederum Fragen und Antworten. Die Pflegeeltern konnten das Kind einfach so annehmen, wie es sich ihnen zeigte. Trotzdem hätten sie gerne das Verhalten des Kindes besser verstehen wollen, denn es erschienen ihnen oft fremd und sie wollten doch ‘richtig’ reagieren, damit es Fritzchen bei ihnen auch gut ginge. Nach unserem Gespräch wurde das Verhalten des Kindes für die Pflegemutter einleuchtender und verständlicher. Sie war noch im Nachhinein froh, dass sie und ihr Mann aus dem Bauch heraus so angemessen gehandelt hatten. Die Pflegemutter und ich beschlossen daraufhin, dass ich zu ihrem Bericht eine erläuternde Kommentierung schreiben sollte, die etwas von unserem Gespräch auf dem Seminar auffangen könnte – und das möchte ich nachfolgend tun.  

Fieberaktion

Die oben beschriebenen ‘Fieberaktion’ weist auf mögliche Missbrauchserfahrungen von Fritzchen hin, die ihn zu diesem heftigen Handeln veranlassten. Wenn wir es auch nicht ‘Wissen’, darf dieses Verhalten aber durchaus zu einer solchen Interpretation ermutigen. Kinder erzählen nicht durch Worte, sondern durch Verhalten und Körpersprache, oder aber auch dadurch, sich gewissermaßen nicht zu verhalten, nichts zu zeigen, sich “tot zu stellen”. 

Leider war den Pflegeeltern von Fritzchen solche Erfahrungen des Kindes nicht bekannt. Bei einer späteren Nachfrage reagierte die damals betreuenden Sozialarbeiterin sehr erschrocken und meinte, dass sie dies unter den damaligen Lebensumständen des Kindes nicht ausschließen könnte. Die Vernachlässigung habe bei der Herausnahme alles andere überfrachtet, so dass daran nicht gedacht wurde. Die Pflegemutter schildert in ihrem Bericht, wie das Verhalten des Kindes sie berührt und erschrocken hat. Sie und ihr Mann haben das Kind dann einfach so genommen, wie es sich zeigte und eine für Fritzchen geeignete und passende Lösung gefunden. Sie haben ihn einfach so akzeptiert ohne zu ‘Wissen’ – eine für Pflegeeltern wahrhaftig äußerst notwendige und wichtige Eigenschaft. 

Fernseh – “Sucht”

Als Fritzchen in die Pflegefamilie kam, war er bereits vier Jahre alt. Die vier ersten Jahre seines Lebens hatte er in einem Umfeld verbracht, in dem er offensichtlich keine wirkliche Rolle gespielt hat. Seine Bedürfnisse, seine Entwicklung blieben unbeachtet. Er schlief, wo er halt war – meist auf der Couch vor dem Fernseher. Vermutlich lief der Fernseher ununterbrochen, so dass diese Berieselung zu seinem selbstverständlichen Lebensumfeld geworden war. Es gab ihm offensichtlich eine gewisse Form von Sicherheit. Als er nun in die Pflegefamilie wechselte, sah er natürlich keinerlei Anlass, diese Fernsehberieselung zu verändern. Sie gehörte zu seinen Tagen wie Essen und Trinken. Es machte ihn unruhig, wenn er nicht weiterhin dieses gewohnte Umfeld hatte. Sein Verhalten passte zu seinem damaligen Leben, es passte aber nun nicht mehr. Das begriff er ganz langsam. Dadurch, dass die Pflegeeltern ihn erst ließen und er vorsichtig Vertrauen aufbauen konnte, gelang es ihm nach und nach, ein nun eher passendes Verhalten zu zeigen. Die Pflegemutter schreibt dazu, dass dies ein “langer, komplizierter und sich immer wiederholender Prozess” war.

Sprache

Fritzchen sprach noch mit drei Jahren eine nur ihm vertraute Sprache und lernte erst dann durch regelmäßige Besuche bei einer Logopädin ‘unsere’ Sprache – so schrieb die Pflegemutter. Es hört sich so an, als hätte Fritzchen eine Fremdsprache erlernen müssen und wahrscheinlich war es für das Kind genau das. Das zeigt aber wiederum ganz deutlich, dass Fritzchen bisher keine Gelegenheit hatte, diese Sprache zu erlernen. Die Sprache des Fernsehens war für ihn unverständlich, eine für ihn als kleines Kind verständliche Sprache wurde ihm nicht vermittelt. Aber sprechen war offensichtlich üblich, dass war ihm irgendwie klar – also suchte er sich eine eigene Sprache. Eine damals sehr passende Reaktion des Kindes auf sein Umfeld. Aber auch hier – irgendwann passte es nicht mehr, musst er umlernen. Sprachtherapie, Sprachkur, das Zusammensein mit den Pflegeeltern, Kindern, Kita und Schule brachten ihm die Sprache und das in einem sehr umfassenden Maße. Als die Pflegemutter mir von der Beschreibung im Zeugnis erzählte, musste ich laut lachen. Er war eine kleine Quasselstrippe geworden, prima für den Deutschunterricht, nervig für den Schulalltag – und wie großartig für ihn selbst. 

Bindung und Vertrauen

Wie gut, dass es die Sprachkur gab. Sie hat dem Kind so viel mehr gegeben als nur eine Sprachverbesserung. Sie ermöglichte ihm durch die wochenlange große Nähe zur Pflegemutter einen enormen Schritt in Nähe und Bindung. Das wiederum ermöglichte ihm, vorsichtig Vertrauen aufzubauen. Der Weg ist noch nicht zu Ende gegangen, noch muss er sich immer der Gegenwart der Pflegemutter versichern. Muss sich vergewissern, dass sein Vertrauen in sie lohnend ist, dass er sich wirklich auf sie verlassen kann. Veränderungen, Krisen und große Probleme können ihn auf diesem Weg des Vertrauens wieder einige Schritte zurückgehen lassen. Egal was er tun wird, es hilft ihm nur die stoische Gelassenheit und Unerschütterbarkeit der Pflegeeltern, um wieder in die schon einmal gegangenen Schritte einfallen zu können. Er muss sich verlassen können – immer!

Besuchskontakte

Fritzchen zeigte klar, wie ihn die Besuchskontakte zuerst verunsicherten. Wie er nicht verstand, was das sollte und wie er damit umgehen sollte. Dann lernte er auch hier. Entwickelte seinen eigenen Weg und seine eigene souveräne Selbstverständlichkeit. Dies gelang ihm jedoch nur – und das ist mir besonders wichtig zu verdeutlichen – durch die gegenseitige Akzeptanz der Pflegeeltern und der Eltern. Er kann offen und auch stolz mit seinen Eltern sprechen, muss keine Befürchtungen haben, dass die Kontakte seine Pflegeeltern oder Eltern in Rage versetzen. Dadurch muss er keine Loyalitätskonflikte haben sondern kann beide – Eltern und Pflegeeltern – in sich und sein Leben integrieren. Jetzt fällt mir ein Satz ein, den ich häufig in Vorbereitungsseminare zu Bewerbern gesagt habe: “Sie müssen die Eltern Ihres Pflegekindes nicht lieben, sich nicht mit ihnen befreunden, aber sie müssen sie achten. Ihnen nicht verzeihen, sie nicht entschuldigen – aber als Menschen achten. Sie sind die Eltern ihres Pflegekindes”. Dieses Kind wird nicht gut leben können, wenn seine Eltern missachtet werden. Besuchskontakte können dem Pflegekind auch die Realität seiner Eltern zeigen. Es erkennt die Unterschiedlichkeit zwischen den Einen und den Anderen und glauben Sie mir, dass erkennen sie wirklich klar. Eine Pflegemutter regte sich auf, als die Mutter des Kindes wieder nicht zum Besuchskontakt erschien. Die Tochter blieb ganz gelassen und sagte: “Aber du kennst sie doch, sie schafft das einfach nicht, sie meint das nicht böse, sie kann es nicht”. 

Vorhersagen der Entwicklung

Pflegekinder sind Wundertüten. Sie überraschen – nicht nur ihre Pflegeeltern, auch die anderen Beteiligten der Pflegekinderhilfe. Eine derartige Vorhersage über die mögliche Entwicklung des Pflegekindes in der Schule hat aus meiner Sicht die Entwicklung in der Pflegefamilie nicht berücksichtigt. Viele Pflegekinder zeigen erst ihre Kapazitäten und ihre Fähigkeiten nach einem längeren Aufenthalt in der Pflegefamilie. Manche Kinder explodieren geradezu. Die Akzeptanz und Zuwendung der Pflegeeltern lässt die Kinder sich finden und gibt ihnen Mut, sich auszuprobieren. 

Noch ein paar Worte zum Schluss

Der Bericht beschreibt klar das, was viele Pflegeeltern erleben: sie nehmen ein Kind auf, von dem sie sehr wenig oder gar nichts wissen. Dann verhält sich das Kind bei ihnen in einer ungewöhnlichen Weise, und sie reagieren so, wie es ihnen oft in Überraschung und Irritation möglich ist. Meist machen sie es spontan richtig und nehmen das Kind so an, wie es sich eben zeigt. Dann fragen sie nach, den PKD, den Vormund und manchmal holen sie sich auch Hilfe bei einem Psychologen. Gemeinsam “buddeln” sie dann in der Vorgeschichte des Kindes, um sich ein Verhalten erklärbarer zu machen und ‘richtig’ zu reagieren. Oft bringt das Buddeln nur Möglichkeiten zum Vorschein, aber keine Gewissheiten und so wird einzig das Verhalten des Kindes der Ausdruck seiner Lebenserfahrungen. Dieses Verhalten ist kein ‘falsches’ Verhalten, es ist das, was das Kind sich in seiner Vorgeschichte aneignen musste. So zu sein war damals sehr passend. In der Pflegefamilie ist ‘so zu sein’ nicht mehr passend, aber das muss das Kind erst einmal wahrnehmen und bereit sein, sein Verhalten den jetzigen Lebensumständen anzupassen. Dafür muss es in der Pflegefamilie Geduld und große Akzeptanz erleben, muss erfahren, dass es sich auf Leute verlassen kann und dass es ihm damit besser geht. Dadurch wird es Vertrauen lernen und Mut entwickeln. 

Die Pflegemutter, die diesen Bericht verfasst hat, beschrieb genau diesen Weg von Fritzchen – Schritt für Schritt.